Frieden fördern - aber wie?

Denkanstösse zu einer Neuorientierung
von Peter Rohner

Dr. Peter Rohner

Frieden fördern – aber wie?

Denkanstösse zu einer Neuorientierung

Der nachfolgende Text ist im gleichnamigen Buch im Jahr 1984 erschienen. Der Inhalt des Buches ist so aktuell wie damals, und wird in dieser zeitgemässen Form zum freien Lesen zur Verfügung gestellt. Weiter unten finden sich zudem Angebote zur Vernetzung und zur weiteren Verbreitung der Kernaussagen des Inhalts.

«Für alle, die nach einem neuen Weg suchen
und Bewährtes erhalten wollen»
– Dr. Peter Rohner, 1984

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

Wer einen Acker von Unkraut befreien will, erreicht sein Ziel nicht, indem er die sichtbar gewordenen Gewächse mit Vernichtungsmitteln verbrennt. Das Unkraut wächst nach, solange die Wurzeln im Boden bleiben.

Ähnliches scheint zu gelten, wenn wir etwas gegen den Unfrieden in unserer Welt tun wollen. Solange es nicht gelingt, das Übel des Unfriedens an seiner Wurzel zu packen, wuchert es weiter, auch wenn wir noch so viele Raketen stationieren oder dagegen demonstrieren. Denn diese Mittel richten sich gegen Wirkungen und Folgen von Unfrieden, nicht gegen dessen Ursachen.

Auch wenn wir in der Einschätzung des Nutzens oder Schadens von militärischer Nachrüstung und Abrüstung verschiedener Meinung sein mögen, so können wir doch zumindest eine Tatsache gemeinsam erkennen und anerkennen: Die notwendige Arbeit an den geistigen Voraussetzungen für Kriegsverhütung und Frieden kann nicht durch Anhäufen von Vernichtungsmitteln ersetzt werden. Solange die Ursachen des Unfriedens wie bisher wirksam bleiben, können wir die gewünschte Sicherheit trotz noch so grosser Bemühungen nicht erreichen, weder durch militärische Nachrüstung noch durch darauf fixierten Widerstand.

Auch ein Rüstungsstopp würde die Kriegsgefahr ’nur‘ reduzieren, aber nicht beheben (wobei natürlich eine solche Reduktion der Gefahr in der gegenwärtigen Lage dringend zu wünschen ist, weil sie wenigstens dem Wahnsinn einer weiteren Rüstungseskalation entgegenwirken kann, aber sie würde nicht ausreichen, um dauerhaften Frieden zu schaffen und zu sichern).

Ob es uns passt oder nicht: Wir brauchen eine Friedenspolitik, die an den Wurzeln ansetzt und nicht im Kampf gegen militärische Folgeerscheinungen stecken bleibt.

Wie können wir vorgehen, wenn wir in dieser Richtung vorankommen wollen?

Ein möglicher Ansatz liegt in einem Befund, der durch Horst Eberhard Richter aufgezeigt worden ist. Ich wähle ihn als Ausgangspunkt, obwohl er vielleicht manche Leser zum Widerspruch herausfordert. Er beruht auf Beobachtungen, die jeder selbst überprüfen kann.

II. Das Erscheinungsbild eines Grundübels

Der bipolare Verfolgungswahn

Die gegenwärtige Sicherheitspolitik wird durch das Abschreckungsdogma bestimmt. Dieses Dogma besagt etwa: einem Feind, der nur darauf lauert, mich in seine Gewalt zu bringen, sobald ich ihm eine Blösse biete. Nur indem ich genügend stark und jederzeit kampfbereit bin, kann ich diesen feindlichen Nachbarn zwingen, von seinen Angriffsabsichten wenigstens vorläufig abzulassen.

Horst Eberhard Richter

Richter hat auf einen Motor für das tödliche Rivalisieren der Atommächte hingewiesen: Die krankhafte Phantasie, dass nur eine unbezwingbare Überlegenheit Sicherheit in der Welt biete. Um die daraus resultierende Rüstungsspirale zu beenden, ist ein gründliches Umdenken erforderlich. Aber bewusste und unbewusste Hindernisse blockieren vorläufig die nötige Wende.1

So wirken z.B. Verleugnungen und falsche Beschwichtigungen der fälligen Neu-Orientierung entgegen. Sie unterstützen die Tendenz sich wie ein Krebskranker zu benehmen, der lieber in stumpfer Apathie zugrunde geht, als sich durch bewusste Konfrontation mit der wahren Lage zum Kampf gegen die krankmachenden Bedingungen aufzuraffen.

Dazu kommt, dass sich auf der Basis eines Sündenbock-Mechanismus ein Wahnsystem etabliert hat: ein System mit Symptomen eines regelrechten kollektiven Verfolgungswahns. 2

Das kann man sich durch eine Überprüfung nach den Kriterien von Psychiatrielehrbüchern bestätigen:

  1. Man glaubt daran, alle Massnahmen des Gegners dienten ausschliesslich aggressiven Absichten. Man wartet geradezu darauf, diese Überzeugung durch entsprechende Belege immer wieder festigen zu können. Der blosse Gedanke, dass die andere Seite sich auch bedroht fühlen könnte, wird als absurd verworfen. Jeder Zweifel daran, dass nur der Gegner Böses im Schilde führe, erscheint als töricht.
  2. Dieses Feindbild ist anscheinend unkorrigierbar3. Keine Signale können mehr wahrgenommen werden und angemessen gedeutet werden die der Verfolger Theorie widersprechen würden. Abrüstungsvorschläge des Feindes werden, noch ehe man sie genau studiert hat, als gemeine Hinterlist gebrandmarkt. Die Furcht vor dem Dämon verlangt, dass man um so misstrauischer reagiert, je umgänglicher der Feind sich gelegentlich zeigt. Nichts erscheint gefährlicher, als sich durch scheinbar versöhnliche Gesten einwickeln zu lassen. Selbst die Vorstellung, dass die andere Seite schon aus Selbstschutz interessiert sein müsste, den Frieden zu erhalten, darf nicht gelten. Gelangen Experten zu dem Schluss, dass der Gegner um der Stabilität seines Gesellschaftssystems und seiner Wirtschaft willen nichts so sehr scheuen müsste als einen Krieg, so irren sich die Experten oder sie sind vom Feind gekauft.
  3. Wo sich im eigenen Lager Opposition regt, schlägt auf sie der Hass zurück, den man dem Aussenfeind zuwendet. Man wehrt sich dagegen, irgendeine kritische Position zwischen oder über den Fronten gelten zu lassen. Atomgegner oder radikale Pazifisten werden hüben wie drüben als Gefahr für die eigene „Verteidigungskraft“ verwünscht, geächtet oder bekämpft. Hier heisst es, die Friedensbewegung verrichte – bewusst oder allenfalls aus Torheit – das Geschäft der Russen. Drüben brandmarkt man die Mitglieder der christlichen Friedensinitiativen entsprechend als Erfüllungsgehilfen des westlichen Imperialismus. Diejenigen also, die gegen die Risiken der Atomrüstung argumentieren, werden selbst als Sicherheitsrisiko verunglimpft. (Umso bemerkenswerter ist die Standfestigkeit einer wachsenden Minderheit, die diesem paranoiden Druck widersteht.)
  4. Der Verteufelung des Gegners entspricht die offizielle unkritische Idealisierung des eigenen Systems. Innerhalb des eigenen Bündnisses vertritt man angeblich nur die edelsten Prinzipien der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit. Wo sich bündnistreue Diktatoren politische Gegner durch Einsperren und Folter vom Halse halten, sieht man es ihnen nach, wenn sie nur der feindlichen Weltmacht unbeirrt die Stirn bieten. Alle aggressiven und imperialistischen Handlungen, vom eigenen System ausgeübt, werden entweder nicht mehr bemerkt, oder von dem Zweck her, den Verfolger zu schwächen, geheiligt.
  5. Die Verfolgungsidee absorbiert die Konzentration in solchem Masse, dass man bei Vorkehrungen, die man gegen den Feind trifft, die damit verbundene Selbstgefährdung ausblendet. So lassen viele sich immer noch einreden, sie könnten in einem grossen Krieg bestimmte Werte und Errungenschaften des eigenen politischen Systems für sich selbst oder zumindest für ihre Kinder und viele Landsleute verteidigen. Dass die Verteidigung einem kollektiven Selbstmord gleichkäme, was den Begriff der Verteidigung zur Illusion macht, kann nicht mehr erfasst werden.4

So weit die Diagnose Richters. Ich glaube, dass sie zumindest teilweise ins Schwarze trifft. Sie bestätigt, dass es Zeit ist, die auf militärische Abschreckungsmittel ausgerichtete Sicherheitspolitik zu überprüfen und unter Mitberücksichtigung von psychologischen Faktoren zu revidieren und weiterzuentwickeln. Denn das Produzieren von atomaren Ersteinsatzwaffen löst offenbar Reaktionen aus, die das Gegenteil des Erwünschten bewirken: Vermehrung statt Beseitigung von Risikofaktoren, Verschärfung statt Abbau der dem Wettrüsten zugrundeliegenden Bedrohtheitsvorstellungen und Ängste.

Vielleicht lässt sich dies am deutlichsten dann sehen und nachempfinden, wenn wir uns selber einmal in die Lage von Menschen hineinversetzen, die sich durch einen mächtigen Rivalen bedroht fühlen. Erfahren sie, dass der Rivale seine Rüstungsanstrengungen verstärkt, ja Waffen in Stellung bringt, die sie ohne Abwehrchancen treffen könnten, dann steigt ihr Bedrohtheitsgrad – zumindest in ihrer Phantasie. Um die damit gegebene Gefahr abzuwenden, braucht es anscheinend etwas anderes als Raketen. Aber was? Wie kommen wir zu einer Sicherheitspolitik ohne krisenverschärfende Nebeneffekte und Rückwirkungen?

Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen gilt es, sich den Wurzeln des Drohverhaltens und der Bedrohtheitsgefühle zuzuwenden. Dazu folgen jetzt einige Beobachtungen und Thesen. Manchen Kollegen, die über längere Zeit mit gewaltfreier Konfliktbearbeitung zu tun gehabt haben, mögen sie teilweise als „Selbstverständlichkeiten“ vorkommen. Das ist aber kein Grund, sie zu übergehen. Es ist Zeit, sie mehr als bisher zu beachten, in das notwendige Umdenken zu integrieren und in wirksames Handeln umzusetzen.

In wissenschaftstheoretischer Hinsicht verstehe ich die folgenden Bemerkungen als Ansatz und Orientierungshilfe für eine weiterführende Hypothesenbildung. Zu wünschen ist, dass bald genügend Leute und Institutionen anfangen, die notwendigen Forschungsarbeiten zu ermöglichen und zu fördern.

III. Von den Symptomen zu den Ursachen

Die Bedingungen, unter denen Unfrieden entsteht, sind mit unserer Umwelt und Innenwelt dynamisch vernetzt. Wenn daher im folgenden auf einige besonders wichtige Schaltstellen hinge wiesen wird, so geschieht dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich bitte die Spezialisten der dabei angesprochenen Forschungsbereiche, ihre Fachkenntnisse zu nützen, um eine kritisch konstruktive Weiterentwicklung des skizzierten Ansatzes zu er leichtern und tatkräftig zu unterstützen.

Betrachten wir die unzähligen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Menschheit und die in den Geschichtsbüchern nachlesbaren Ursachen dieser Kriege, so können wir weiterfragen: Warum und wie kam es zu diesen Gewalttätigkeiten, Grenzüberschreitungen, Rechtsverletzungen? Wie kam es dazu, dass Leute in Ost und West in bestimmten Situationen an legal vereinbarten Grenzen nicht haltmachten? Wo gibt es in den dabei mitspielenden Wirkungszusammenhängen Stellen, die durch menschliche Einsicht und Entscheidung umgelenkt werden können, so dass die dem Verhängnis zutreibenden Verhaltensmuster nicht noch einmal zur Katastrophe eines Krieges führen? Was folgt daraus für die heute notwendige Politik?

Die Erfahrung zeigt, dass menschliches Verhalten – auch Einstellungen und Entscheidungen von Politikern – in der Regel nicht durch rein rationale Überlegungen, sondern auch – mehr oder weniger bewusst – durch emotionale Kräfte beeinflusst werden, zum Beispiel durch Angst vor Prestige-Verlust und Unsicherheit, durch das Streben nach Machtzuwachs und Machtfestigung, durch Misstrauen gegenüber dem Weg des Gewaltverzichts, durch Abneigung gegenüber Alternativen zum Feindbilddenken, durch Hass- und Rache-Affekte, durch die Sucht nach Überlegenheit. Je besser es gelingt, ausser rüstungstechnischen Daten auch die psychischen Faktoren von Friedlosigkeit zu erkennen, desto grösser wird die Chance, damit auf verantwortbare Weise umzugehen.

Aufgrund der Erfahrungen, die sich in meiner Arbeit mit einzelnen Menschen und mit Gruppen in Konfliktsituationen gezeigt haben, scheinen mir vielfältige Ursachen von friedlosem Verhalten wirksam zu sein, sowohl gesellschaftliche Konfliktursachen als auch individualpsychologische Motive, zum Beispiel die folgenden.

1. Verdrängte Angst

Damit ist die Gesamtheit der aus dem Bewusstsein verdrängten Ängste gemeint, also zum Beispiel auch die überspielte Angst vor Unsicherheit und Krieg, oder die Angst, den eigenen Anteil an entstandenen Konflikten wahrzunehmen und zuzugeben (statt Unfehlbarkeit vorzuspiegeln oder die Hände in Unschuld zu waschen).

Verdrängte Angst erschwert die Entscheidung zu vernünftigem versöhnungsorientiertem Verhalten. Sie steigert die Neigung, Verantwortung abzuschieben und „die anderen“ zu beschuldigen oder zu attackieren, was in der Regel krisenverschärfende Gegenreaktionen auslöst. Vorwürfe rufen Gegenvorwürfe hervor, Bedrohung erzeugt Gegen-Bedrohung, so dass die Krisenspirale in die Höhe getrieben wird.

Eine Alternative wird möglich, wo wir den Mut aufbringen, unsere Angst wahrzunehmen, zuzugeben und in friedensförderndes Verhalten umzusetzen, zum Beispiel in den Entschluss, die Angst auch mit den als bedrohlich erlebten Konfliktpartnern offen auszusprechen, statt auf Imponiergehabe und Verleugnung der eigenen Verletzbarkeit auszuweichen. Das damit verbundene Risiko ist kleiner als jenes, das durch Drohverhalten und die dadurch ausgelösten Gegenreaktionen entsteht.

Im Fall der gegenwärtigen „Sicherheitspolitik“ werden angstbedingte Schutzreaktionen wie das Fortsetzen der militärischen Aufrüstung mit scheinbar realistischen Entscheidungsgrundlagen verquickt und damit vermeintlich rational begründet. Man hält sich für realistisch, wenn man dem von der Gegenseite geäusserten Friedenswillen nicht traut; man hält es für unnötig, die gewohnte Einstellung zu überprüfen und der veränderten Weltlage entsprechend zu revidieren.

Dazu kommt, dass die Seuche des Mordens und Kriegführens fast so alt ist wie die Menschheit überhaupt. Dadurch scheint die Annahme bestätigt zu werden, wonach es Krieg auch in Zukunft geben werde. Sie ist wahrscheinlich realistisch, solange es uns nicht gelingt, das notwendige Umdenken zu vollziehen oder zumindest entschlossen damit anzufangen.

2. Aggressivität – in Verbindung mit der Unfähigkeit zu lebensfreundlichem Umgang mit Aggressionen

Die Verhaltensforschung hat eine Beobachtung bestätigt, die jeder von uns schon bei Tieren machen kann: Die massivsten Aggressionen geschehen dort, wo ein Lebewesen bedroht und „in die Ecke getrieben“ wird. Auch friedliche Tiere beissen oder stechen, wenn sie in Bedrängnis geraten. Ähnliches lässt sich bei Kindern und auch bei erwachsenen Menschen wahrnehmen. Wo sie bedroht werden, nimmt die Neigung zu gewalttätigen Reaktionen zu (solange die Evolution des Menschlichen nicht weitergediehen ist).

Ich habe den Eindruck, dass gerade auch machtorientierte Politiker diesen Sachverhalt nicht genügend berücksichtigen. Allzu oft wird die Hoffnung kurzsichtig und illusionär auf die Wirkung von militärischen Waffen gesetzt, während übersehen wird, wie gefährlich es ist, einen zu Aggression neigenden Konfliktpartner mit Drohmitteln unter Druck zu setzen.

Wenn jemand mit militärischen oder psychologischen Mitteln in die Enge getrieben oder gar in eine unerträgliche Notlage hineinmanövriert wird, dann steigt die Gefahr, dass es zu Kurzschluss- und Notwehrreaktionen kommt.

Diese Gefahr wird durch das Stationieren von Raketen, die als offensiv bedrohlich empfunden werden, nicht behoben, im Gegenteil: Sie wird verschärft. Denn das Erhöhen der Bedrohung steigert nicht nur die sogenannte Abschreckung, sondern auch die Neigung zu gefährlichen Gegenmassnahmen, z.B. zu überraschenden Präventivschlägen.

Ausserdem verherrlicht ein grosser Teil unserer Gesellschaft Stärke und Macht, während er Werte wie Gewaltfreiheit, Solidarität und lebensfreundliche Konfliktbewältigung erst relativ wenig schätzt. Zwar bahnt sich in manchen Bewegungen und gerade auch in der heranwachsenden Generation eine Änderung an. Aber die Vergötzung von selbstherrlicher Macht ist nach wie vor gross. Sie kann so weit gehen, dass selbst offensichtlich egozentrisches und rücksichtsloses Kämpfen gegen Rivalen als „toll“, „stark“, „attraktiv“ empfunden werden, etwa wenn in Wildwest-Sendungen die „Helden“ auf Bedrohungen mit dem sofortigen Zücken der Pistole antworten. Die Möglichkeit zu kreativem und konstruktivem Umgang mit Aggressionen wird erst wenig gesehen und genützt.

Erschwert wird die Wende zum notwendigen Umdenken und Hinzu lernen durch die Wirkung von Stressfaktoren.1

3. Stress

Viele Menschen unserer Gesellschaft leben in einer chronischen Stresssituation. Dadurch ist es ihnen kaum oder gar nicht möglich, Zeit zu genügend Besinnung und gründlichem Nachdenken über Langzeitfolgen der herrschenden Verhaltensgewohnheiten zu finden. Das gilt auch und besonders für Leute an den Schaltstellen der politischen Macht.

Im Getriebe der dringenden Tagesgeschäfte fehlt oft der Freiraum, um grössere Zusammenhänge mit Einbeziehung von psychologischen Wirkungsketten zu bedenken. Und es fehlt auch die Übung in dem für ganzheitliche Systembetrachtung notwendige Denken.2

Verschärfend kommt hinzu, dass in Stresssituationen biologisch bedingte Denkblockaden ausgelöst werden3 und dass der Weg zu lebensfreundlichem Umgang mit zahlreichen Hindernissen besetzt ist, zum Beispiel mit Vorurteilen und Illusionen.

4. Illusionen

Die Meinung, man könne die bedrohte Sicherheit unserer Welt retten, indem man noch mehr Drohmassnahmen realisiert (Beispiel: Raketen) wirkt trügerisch. Das gilt auch dann, wenn sie durch die herrschende Regierungspolitik vertreten wird. Sie stützt gewollt oder ungewollt die Neigung, bei den gewohnten Einstellungen zu bleiben und sich die Anstrengung eines gründlichen Nachdenkens bzw. Umdenkens zu ersparen.

Einmal mehr zeigt sich, was schon Albert Einstein bemerkt hat: „Der Irrglauben, Sicherheit könne durch Anhäufung von Waffen erzielt werden, ist so weit verbreitet wie je zuvor.“4 Geändert hat sich, dass dieser Irrglaube einer rasch wachsenden Menschenmenge in Ost und West durchschaubar wird. Aber die gefährliche Illusion, man könne Friedenssicherung durch Raketen erreichen, ist trotzdem wirksam geblieben. Sie ist anscheinend besonders bei Machthabern noch weit verbreitet.

Um zu einer vernünftigen Friedenssicherung zu kommen, brauchen wir eine Basis für vernünftiges Vertrauen: ein taugliches Gegengewicht gegen militärisch verengtes Denken und gegen die Diktatur von wahnhaftem Misstrauen.

5. Misstrauen, genauer: undifferenziertes Misstrauen

Das für ein friedliches Zusammenleben erforderliche Vertrauen ist infolge von zahlreichen Enttäuschungen und infolge von Defiziten im Bereich von vertrauensfördernden Erlebnissen unterhöhlt. Misstrauen ist zu einer Gewohnheit geworden, die viele für nötig und unveränderbar halten. Mitunter wird die Verweigerung von Vertrauen als Zeichen für Realismus empfunden und gewertet, was wiederum scheinbar vernünftig begründet ist: Es ist ja tatsächlich so, dass es in unserer Welt allzuviele Personen und Behauptungen gibt, denen gegenüber Misstrauen angebracht ist. Negative Erfahrungen wirken oft stark nach. So bleibt nur wenig Chance für den Gedanken, dass es auch vertrauenswürdige Menschen und reale Möglichkeiten für eine auf Vertrauensbildung ausgerichtete Politik gibt. Die Flut der enttäuschten Erwartungen schüttet täglich neues Wasser auf die Mühle des Misstrauens. Die ohnehin schon grossen Komplikationen und Belastungen des Lebens in unserer Gesellschaft werden damit noch grösser.

6. Angstauslösende Lebensbedingungen

So nehmen die Probleme für viele ein Ausmass an, das entmutigend bis lähmend wirkt. Dadurch aber wird der Schritt zu friedensförderndem Engagement zusätzlich erschwert. Hinzu kommt die Unruhe, die durch Schwierigkeiten mit zu viel oder zu wenig oder unbefriedigender Arbeit entstanden ist. Die Folge ist ein Klima, das positive Lebenskräfte immer mehr zu ersticken droht. Lern- und Arbeitsfreude, Lebenslust, Humor und vitaler Elan habe Seltenheitswert bekommen. Spannungen infolge von ökonomischen und ökologischen Krisen, von unverarbeiteten Konflikten mit der Umwelt und mit sich selber verstärken die Tendenz zu Unmut und dem dazu gehörenden Sündenbock- und Feindbild denken.

7. Feindbilder mit entlastender Funktion

Wer einen äusseren Feind hat, gegen den er schimpft, wettert, kämpft, kann innere Spannungen auf scheinbar ungefährliche Weise abreagieren. Wenn etwa ein Amerikaner mit seinem Nachbarn gegen die Russen loszieht, dann wird er wahrscheinlich die Sympathie des Nachbarn dadurch nicht verlieren; im Gegenteil, durch das „Schiessen gegen einen gemeinsamen Feind“ können sich zunächst angenehme Gefühle des Einigseins und der Solidarität einstellen. Analoges gilt für die andere Seite. Auch für die Russen wirkt anscheinend die Existenz eines Aussenfeindes psychisch entlastend und solidarisierend.

So wird es verständlich, dass sowohl in Russland als auch in Amerika so wenig passiert, was zu einer Differenzierung und vielleicht schliesslich zu einer Beendigung des Feindbilddenkens führen könnte.

Auch liefert die Existenz eines äusseren Feindes einen Vorwand, um die Rüstung im eigenen Lager voranzutreiben und mit scheinbar vernünftigen Argumenten zu begründen.

Natürlich ist der Gedanke, für den eigenen seelischen Haushalt ein Feindbild zu „brauchen“, nicht schmeichelnd. Von daher wird begreiflich, wenn er abgewertet wird, um so mehr, als hier historische Fakten Schützenhilfe leisten: Sowohl in der russischen als auch in der amerikanischen Geschichte gibt es – „natürlich“ – Gewalttätigkeiten und Rechtsverletzungen, die einer dem anderen vorwerfen kann, wenn er will.

Die Frage, wieweit solche Vorgänge als Notwehr und Entgleisungen oder als typisch für das Denken der verantwortlichen Regierungen zu interpretieren seien, wird kaum gestellt. Statt dessen nützt jede Seite die Fehler des Rivalen als Munition und Schutz gegen das Ansinnen, an der Berechtigung des Feindbild-Denkens zu zweifeln. Real bestehende Feindschaften werden dadurch verschärft, statt einer Lösung näher gebracht.

8. Verwirrung

Die heutige Reizüberflutung und die Überfülle von sich widersprechenden Behauptungen haben eine Verwirrung ausgelöst, in der es vielen wie in einem Labyrinth geht. Sie wissen nicht mehr, wo sie stehen, wie sie weiterkommen, wem sie glauben können und wem nicht.

Während die einen in unverbindlichem Skeptizismus und Interesselosigkeit gegenüber der politischen Meinungsbildung verfallen, nehmen andere die Flucht nach vorn, indem sie die von ihnen oder ihrer Partei vertretene Meinung verabsolutieren und sich bewusst oder unbewusst Unfehlbarkeit vormachen. Beispiele dafür zeigen sich dort, wo Diskussionspartner fanatisch darum bemüht sind, „Recht“ zu behalten oder zu bekommen, während sie keine Anzeichen für kritische Distanz zu ihrer eigenen Auffassung zeigen, dementsprechend auch wenig Lernbereitschaft. Das Interesse an ehrlichem Suchen nach Orientierungshilfen scheint oft kleiner zu sein als das Interesse an Scheinwissen und parteipolitischen ldeologien. Vor lauter Reizen von Pseudowissen und falschen Propheten ist es schwierig geworden, zwischen zuverlässigen und irreführenden Aussagen zu unterscheiden, nicht zuletzt auch im Bereich der Selbstkritik.

9. Verdrängte Schuldgefühle

Wo Menschen nicht fähig und gewillt sind, eigene Fehler wahrzunehmen und zuzugeben, wer den Folgen ausgelöst, die das soziale Klima vergiften. Verantwortung wird dann abgeschoben, für Missstände werden die anderen zum Sündenbock gestempelt, und so kommt es zu den unerquicklichen Teufelskreisen der wechselseitigen Schuldzuweisung.

Lebhaft erinnere ich mich an eine Tagung, bei der Europäer mit Russen und Amerikanern zusammen waren. Im Rückblick kommt es mir vor, als hätten die Russen den Amerikanern und die Amerikaner den Russen mit geradezu langweiliger Verbissenheit Vorfwurfssalven serviert, ohne auch nur ein einziges Mal wirklich zu sehen und zu sagen, was sie als den eigenen Anteil am Eskalieren der Schwierigkeiten erkennen und anerkennen.

Die Gewohnheit, den „Splitter im Auge des Bruders“ zu sehen und den Balken im eigenen zu übersehen, scheint international verbreitet zu sein.

10. Mangelnde Lern- und Versöhnungsbereitschaft

Wo aber Menschen nicht lernen, den eigenen Anteil an erlebten Schwierigkeiten wahrzunehmen und zuzugeben, kommt es zu einem Wuchern von fruchtlosen Angriffs- und Verteidigungsreaktionen. Dadurch bleibt eine der ergiebigsten Quellen für schöpferische Bewältigung von sozialen Konflikten versperrt: die Möglichkeit zu Versöhnung.

Aufschlussreiche Beispiele dafür zeigen sich in der Geschichte von eskalierenden Partnerschafts- und Ehekrisen, etwa dort, wo Beziehungen an sturen Vorwurfshaltungen und Unfähigkeit zu Versöhnung zerbrechen. In solchen Beziehungen fehlt es in der Regel offensichtlich an etwas ganz anderem als Druck- und Drohmitteln, zum Beispiel an Friedensfähigkeit mit der dazu gehörenden Phantasie und Lernbereitschaft. Im komplexen Feld der politischen Zusammenhänge sind die verheerenden Folgen von mangelnder Versöhnungs- und Lernbereitschaft nicht so deutlich sehen. Sie sind durch mehrschichtige Machtfaktoren, Partei-Strategien, sogenannte Sachzwänge und dergleichen überlagert. Aber sie sind trotzdem wirksam, sogar in besonders gefährlicher Weise, soweit sie kaschiert bleiben.

11. Absonderung vom Schöpferischen.

Für das Erarbeiten von neuen Wegen sind nicht nur Wissen, Fleiss und Disziplin, sondern auch kreative Kräfte notwendig. Die bislang vorherrschende Erziehungs- und Schulungsmethoden vernachlässigen eine angemessene Förderung in dieser Richtung.5 Umso deutlicher erscheint die Notwendigkeit, den Kontakt zur schöpferischen Dimension unseres Lebens zu erneuern und weiterwachsen zu lassen (konkrete Gelegenheit dazu können wir an mehreren Orten schaffen und nützen, z.B. in der Freizeitpädagogik, in der Erwachsenenbildung, in Familien, Freundeskreisen, Gemeinden).

12. Mangelnde Liebesfähigkeit

Wo Unmenschlichkeit, Verlogenheit und Hass herrschen, fehlt ein entscheidend wichtiger Nährboden für friedensfreundliches Verhalten, gerade auch dort, wo es um die Auseinandersetzung mit andersdenkenden Konfliktpartnern geht. Die Meinung, dass Versöhnungsbereitschaft, ehrliche Verständigung, Offenheit für den Glauben an die Kraft schöpferischer Liebe in der Politik nichts zu suchen haben, hält einer kritischen Überprüfung nicht stand.6 Gemeint ist hier mit „Liebe“ freilich mehr als ein zärtliches Gefühl. Gemeint ist eine Kraft, die dort erlebbar wird, wo sich Menschen mit aufrichtigem, befreiendem Wohlwollen begegnen.

Im Hinblick auf die Praxis der Friedensarbeit ist besonders bemerkenswert, dass diese Kraft auch für den Umgang mit Macht und Ohnmacht weiterführende Wege erschliessen kann. Sie ermöglicht, zu einer Einstellung frei zu werden, die Macht übernehmen und handhaben sowie auch wieder abgeben lässt, je nach dem, was in den gegebenen Situationen notwendig oder sinnvoll erscheint.

13. Habsucht und Machtgier

Das Wuchern von Habsucht und Machtgier ist ein Prozess, der in der Regel nur teilweise bewusst wird. Um ihn durchschauen zu lernen, ist es zweckmässig, von selbst erlebten Erfahrungen auszugehen. In Zeiten innerer Befriedigung kann ich z.B. leichter auf das Noch-mehr-haben Wollen verzichten als in Zeiten existentieller Frustration.

Je mehr uns die Erfahrung von schöpferischer Lebensweise und Entfaltung abgeht, desto stärker wird die Tendenz, nach Mitteln der Ersatzbefriedigung wie z.B. materiellem Luxus oder eigenmächtiger Überlegenheit zu streben.

14. Ungerechtigkeit, Täuschung, Hass

Ungerechtigkeiten schaffen Unfrieden im kleinen und im grossen. Sie vergiften das soziale Klima, schüren das Entstehen von Revolutionen und Rivalitätskämpfen und damit Tendenzen zur Gewalttätigkeit.

Wer sich ungerecht behandelt fühlt, neigt – wenn nicht zu Resignation und Depression – zu Affekten, die ihn drängen, die eigene Position zu stärken und die des Gegenspielers zu schwächen, ohne vor Rücksichtslosigkeit haltzumachen. Dabei erliegt er leicht der Gefahr, Mittel einzusetzen, die bei diesem Ärger, Ratlosigkeit, Hass erzeugen. Und er übersieht meist völlig. welche Folgen er zu erwarten hat, wenn sein Partner sich bedroht, betrogen, benachteiligt, zu Rache herausgefordert fühlt.

Welche Dramen Ungerechtigkeit, Täuschungsmanöver und Hass auslösen können, erleben wir täglich in der Politik, aber auch im privaten Bereich. Und die Weltliteratur hat solche Entwicklungen eindrucksvoll nachgezeichnet.7

IV. Zwischenreflexion und Kontrolle

Die oben angeführten Hinweise beruhen auf Erfahrungen, die sich im Lauf meiner Arbeit mit Gruppen in Konfliktsituationen entwickelt haben. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass beim Entstehen von Unfrieden seelische und geistige Kräfte entscheidend wichtig sind, auch wenn diese in der öffentlichen Diskussion vorläufig weniger beachtet werden als Raketen und Anti-Raketen-Demonstrationen. Aber vielleicht bin ich an dieser Stelle befangen? – Weil sich in meinem Erlebnisbereich psychologische Hilfestellungen bewährt haben, bin ich vielleicht in der Gefahr, die Bedeutung von psychologischen Faktoren zu überschätzen. Es scheint mir daher in diesem Zusammenhang interessant, auch zu beachten, welche Beobachtungen von Leuten anderer Erfahrungs- und Forschungsgebiete gemacht worden sind. Ich denke zum Beispiel an die auf Friedensfragen bezogenen Aussagen von Naturwissenschaftlern:

„Eine psychologische Umstellung auf Vertrauens- und Verständigungsbereitschaft ist die erste Voraussetzung zu einer friedenssichernden Politik.“ 

Diese Feststellung stammt von Albert Einstein.1

In Bezug auf das die Kriegsgefahr in die Höhe treibende Wett rüsten gibt es eine aufschlussreiche Bemerkung von Carl Friedrich von Weizsäcker: Das übliche Grundmissverständnis des Problems des Wettrüstens besteht darin, dass jede Seite der anderen ständig übermässige, also offenbar aggressiv gemeinte Rüstung vorwirft. Dieser Vorwurf ist meist sogar aufrichtig. Wenn zwei Gegner einander misstrauen, fühlt sich in Wahrheit jeder erst dann sicher, wenn er erheblich stärker ist als der andere. Die Bedingung, dass jeder stärker sei als der andere, ist unerfüllbar. So jagen beide einem vor ihre Nase gebundenen Köder nach, den sie nie erreichen; das nennt man Wettrüsten.2

Schliesslich ein Ergebnis, zu dem Alfred Mechtersheimer, der Leiter des Starnberger Forschungsinstituts für Friedenspolitik gekommen ist: 

  • Die Gefahr des Atomkrieges wird immer grösser,
  • die Politiker wollen diese Gefahr nicht wahrhaben oder sie versuchen, ihr mit „Nachrüstung“ zu begegnen, wodurch der Rüstungswettlauf noch weiter verschärft wird.
  • Die etablierte Wissenschaft kann aus dieser Gefahr keinen Weg weisen, weil sie in demselben Denken wie die Politiker befangen ist.3

Alfred Mechtersheimer,
Leiter des Starnberger Forschungsinstituts für Friedenspolitik

Ich glaube, dass diese Feststellungen Mechtersheimers bedenkenswert sind, obwohl sie differenzierungsbedürftige Elemente enthalten.

Der Vorwurf, die „Gefahr nicht wahrhaben“ zu wollen, trifft meines Erachtens für viele, aber nicht für alle Politiker zu (also nicht pauschal für „die Politiker“), Analoges gilt für die angesprochene Wissenschaft. Mechtersheimers Kritik an der Wissenschaft lässt unerwähnt, dass es auch Wissenschaftler gibt, die gerade nicht in demselben Denken wie die Politiker befangen sind. Konkrete Beispiele sind durch Initiativen wie „Naturwissenschaftler für den Frieden“, „Ärzte für den Frieden“, „Pädagogen gegen Rüstungswahnsinn“ deutlich geworden.

Wer Kontrollen und Ergänzungen aus der Sicht der Theologie sucht, findet weiterführende Hinweise in biblisch fundierten Veröffentlichungen, zum Beispiel in dem von Ch. Küpper und F. Rieger herausgegebenen Taschenbuch „Atomwaffen und Gewissen“ (Freiburg 1983) und in den von den Kirchen herausgegebenen Schriften zur Friedensarbeit, u.a. im Beitrag der deutschen Bischofskonferenz zum Thema „Gerechtigkeit schafft Frieden'“ (Bonn 1983).

Wenn zwischen verschiedenen Ebenen unterschieden wird- etwa zwischen Faktoren im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich -, dann ist zu beachten, dass diese miteinander vernetzt sind: Mehrdimensionale Wechselwirkungen in und zwischen offenen Systemen! Ausführlichere Unterlagen dazu finden sich in den im Literaturverzeichnis erwähnten Veröffentlichungen.

V. Zur Arbeit an den Wurzeln

Was können wir tun, wenn wir an den Wurzeln des Unfriedens konstruktiv arbeiten wollen?

Für die Auseinandersetzung mit dieser Frage folgen jetzt 12 Thesen, die auf die im 3. Kapitel angeführten Begriffe Bezug nehmen.

Erste These

Der gegenwärtigen „Sicherheitspolitik“ liegen Ängste zugrunde, die durch Verständigung, Vertrauen schaffende Versöhnung und Kooperation, nicht durch zusätzliche Drohmassnahmen gelöst werden können. 

Die Angst vor einem 3. Weltkrieg ist unter den z.Zt. gegebenen Bedingungen real begründet und fordert daher zu einem Verändern der sie auslösenden Realsituation heraus. Sie ist ein vorrangig zu beachtendes Warnsignal und macht auf eine Gefahr aufmerksam, die weder durch Verharmlosung und Verdrängung noch durch Panikmacherei bewältigt werden kann.

In Bezug auf die psychologische Seite der Angstbewältigung gilt, was Fritz Riemann, einer der erfahrungsreichsten Psychoanalytiker, gesagt hat: „Es ist wohl eine unserer grossen Illusionen, dass wir glauben, Angst vermeiden und ausschalten zu können – sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten. Wir können nur Gegenkräfte gegen sie entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Glaube und Liebe. Diese können Angst überwinden, verarbeiten oder sie annehmen helfen. Methoden, welcher Art auch immer, die uns Angstfreiheit zusichern wollen, sollten wir mit Skepsis betrachten, weil sie der Wirklichkeit unseres Seins nicht gerecht werden und illusorische Erwartungen nähren.“1

Im Fall des Ost-West-Konfliktes haben wir uns daran gewöhnt, Angst durch militärische Massnahmen und entsprechende Gegen-Demonstrationen zu beantworten. Demgegenüber bleiben andere Möglichkeiten der Angstbewältigung am Rand des öffentlichen Bewusstseins, zum Beispiel die Möglichkeit, das der Angst zugrunde liegende Misstrauen durch konsensfähige und psychologisch kluge Initiativen abzubauen, etwa durch mehr direkte, von Pseudokommunikation entlastete Gespräche zwischen den Konfliktpartnern und vermittelnden Neutralen.

Wenn die Russen anfangen, das Misstrauen und damit die Angst zu sehen, die bei uns verbreitet sind (infolge der Invasion in Afghanistan, infolge der Menschenrechtsverletzungen des sowjetischen Machtapparates, infolge von kommunistischen Weltrevolutions-Vorstellungen), dann kann es ihnen wahrscheinlich leichter fallen, unsere Rüstungsmassnahmen zu verstehen, ohne uns aggressive Invasionsabsichten zu unterstellen. Und wenn wir anfangen, die Angst zu sehen, die bei den Russen wirksam ist (etwa infolge von Säbelrasseln der US-Regierung, infolge von wiederholten vernichtenden Angriffen westlicher Mächte – und dies in unserem und im letzten Jahrhundert – oder infolge von inneren Schwierigkeiten), dann fällt es uns leichter, das auf der russischen Seite vorhandene Streben nach Sicherheit und militärisch gestützter Abschreckung zu verstehen.

Je mehr es gelingt, die Angst beider Seiten zu erkennen, desto eher wird es möglich, an die Ursachen des Wettrüstens heranzukommen. Wird dagegen die Angst wie bisher in Militarisierung und Machtdemonstration umgesetzt, dann besteht die Gefahr, dass beide Seiten auch in Zukunft das eigene Rüsten für notwendig und defensiv friedenssichernd halten, während sie die Rüstungsbemühungen auf der Gegenseite als bedrohlich und offensiv empfinden.

Zweite These

Wer auf Bedrohtheitsvorstellungen mit Gegendrohung reagiert und wer auf Aggressionen mit Gegenaggressionen antwortet, bleibt im Kreislauf der Gewalt gefangen. Befreiung wird erfahrbar, wenn wir lernen, auf Bedrohung gewaltfrei und konstruktiv zu reagieren, z.B. durch Entscheidungen, die dem Geist einer souverän wohlwollenden Haltung im Sinne der Bergpredigt entsprechen. Dass solche Entscheidungen auch in unserer Zeit in die Tat umgesetzt werden können, haben Menschen wie Gandhi oder Martin Luther King gezeigt. 

Das Lernen in dieser Richtung kann durch Hilfen erleichtert werden, die auf aggressionstherapeutischen und gruppenpädagogischen Erfahrungen beruhen.2 Im Übrigen hat die experimentelle Lernforschung eine alte pädagogische Einsicht bestätigt: Lernprozesse werden besonders wirksam durch konkrete Modell Beispiele gefördert3 und durch Verstärken von positiven Verhaltensansätzen.4

Dritte These

Stress-Situationen erschweren die Entscheidung zu friedensförderndem Handeln. Unsere heutige Lebenssituation macht neue Formen der Stressbewältigung erforderlich. Im Entwickeln solcher Formen liegt eine Chance, die Fähigkeit zu vernünftigem Umgang mit Konflikten zu erweitern. 

Unser Organismus ist darauf angelegt, in Gefahrensituationen auf bestimmte Reize hin nach einem vorprogrammierten Alarmplan zu reagieren: Der Körper wird auf sofortige Höchstleistung vorbereitet, indem z.B. Hormone in den Kreislauf ausgeschüttet werden, die sofortiges Flucht- oder Angriffsverhalten ermöglichen.5 Dieses in unseren Genen verankerte Reaktionsprogramm diente ursprünglich der Selbst- und Arterhaltung. Es ermöglichte unseren Vorfahren, bei Gefahr „automatisch“ mit einer raschen Energiemobilisierung zu reagieren.

Wenn etwa ein Steinzeit-Jäger von einer Gefahr überrascht wurde, dann konnte er blitzschnell wegspringen oder die Gefahrenquelle attackieren. Erst zu denken und dann zu handeln, hätte in einem solchen Fall zu lange gedauert. Die Stressreaktion mit der dazu gehörenden Denkblockade wirkte somit lebensrettend.

In unserer hochtechnisierten Umwelt leben wir grundlegend veränderten Bedingungen: Durch Hektik, Lärm, Verkehrsstress, Überforderung im Beruf usw. ist der Alltag für viele zu einem Dauer-Stress geworden. Dadurch kommt es zu ständigen Fehlalarmen. Der Organismus reagiert durch Energiemobilisierung, Erhöhung des Blutdrucks, Ausschütten von Adrenalin, Anspannung der für Angriff und Verteidigung gebrauchten Muskeln …, ohne dass eine Gefahr gegeben ist, für die diese Reaktion sinnvoll wäre. So erscheint sie uns dann als unangemessen, als „neurotisch“ zum Beispiel. Und weil die mobilisierte Energie in den heutigen Lebenssituationen nicht durch körperliches Angriffs- und Fluchtverhalten ausgelebt werden kann, kommt es zu einem Energiestau, der einen chronisch überhöhten Spannungszustand verursacht. Wenn er nicht durch körperliche Aktivität in Form von Sport, Tanz, Wanderungen, Bioenergetik und dergleichen abreagiert wird, dann kann er sich pathologisch auswirken und den friedensgefährdenden Aggressionsdruck verstärken.

Vielen von uns und gerade auch Politikern scheint nur wenig Zeit für Bewegungs- und Entspannungsphasen zur Verfügung zu stehen. Um so dringender ist es, sich der damit gegebenen Gefahren bewusst zu werden und nach angemessenem Ausgleich zu suchen. Um mit Stress fertig zu werden, ohne dass gesundheits- und friedensgefährdende Folgen entstehen, ist es jeden Fall notwendig, die dem Stressausgleich dienenden Phasen wirksam zu nützen und zu erweitern.

Wo es gelingt, die Dominanz von Stress abzubauen, entstehen Möglichkeiten zu einer Befreiung von Denkblockaden. Dadurch eröffnen sich für die Arbeit an manchen Risikofaktoren neue Wege, z.B. für den Umgang mit Vorurteilen.

Vierte These

Friedensarbeit erfordert, sich auch über die eigene Abhängigkeit von Vorurteilen keine Illusionen zu machen. Die Meinung wir hätten keine Vorurteile, ist eines der gefährlichsten Vorurteile, weil es die Aufgeschlossenheit zu aufmerksamem Umgehen mit Vorurteilen und die dazu erforderliche Lernbereitschaft einschränkt.

Nützlich ist, wenn wir lernen,

  • uns des Einflusses von Vorurteilen bewusst zu sein,
  • die durch Erziehung und Propaganda bedingten Vorurteile zu erkennen, statt sie ideologisch zu zementieren (etwa durch pseudorationales Argumentieren mit dem Ziel, „Recht“ zu bekommen),
  • für Weiterentwicklung, neue Wahrnehmungen und notwendiges Revidieren von vorgefassten Meinungen offen zu sein,
  • Vorurteile als das anzusehen, was sie sind: eben Vor-Urteile, also nicht fertige Urteile.
Den Abbau von Vorurteilen können wir erleichtern, indem wir uns mit Andersdenkenden auseinandersetzen und einschlägige Ergebnisse der Forschung zur Kenntnis nehmen, ohne in der Beschäftigung mit Detailfragen und undurchschaubaren Spezialistentheorien hängen zu bleiben. Günstige Voraussetzungen dazu lassen sich durch Veranstaltung von Arbeitsgesprächen unter Einbeziehung kommunikationsfördernder Methoden6 schaffen, wobei die Erfolgsaussichten wachsen, wenn Gesprächspartner mitwirken, die Mut zu Offenheit und Vertrauensvorschuss mitbringen.

Fünfte These

Die Bereitschaft zu vernünftigem Vertrauen kann gefördert werden, indem wir Kontakt zu vertrauenswürdigen Menschen aufnehmen und pflegen: Menschen, die zu ungeheucheltem Wohlwollen und Zuverlässigkeit fähig sind.

Was aber, wenn jemand keine Freunde mit dieser Eigenschalt kennt? Vielleicht lohnt es sich dann, zunächst nach dem eigenen Anteil am Fehlen von solchen Freunden zu suchen. Dazu kann eine Auseinandersetzung mit selbstkritischen Fragen nützlich sein.

„Wie steht es mit meinem eigenen Beitrag zur Entwicklung von freundschaftlichen Beziehungen? Was tue ich für das Wachsen meiner Fähigkeit zu tragfähigem Wohlwollen? Spüren meine Gesprächs- und Konfliktpartner, dass ich sie wirklich annehme, auch wenn sie anderer Ansicht sind? Bin ich auch dort offen und dialogbereit, wo man mir mit Skepsis, Misstrauen, Trotz oder Angst begegnet? Wieweit können die mir begegnenden Menschen erleben, dass sie sich ohne Fassade zeigen dürfen, und dass ich ihnen das Wohlwollen auch dann nicht aufkündige, wenn sie meine Erwartungen enttäuschen?“

Selbsterkenntnis kann auch hier der Anfang zu einer Wende sein. Dabei ist gut, auf die Bedeutung eines tragfähigen Grundvertrauens zu achten. Ich meine damit ein Vertrauen, bei dem wir uns auf eine Wirklichkeit verlassen, die unser rationales Fassungsvermögen übersteigt, aber trotzdem erfahrbar ist: eine Kraft, die uns trägt, auch wenn wir mit unserem gewohnten Wissen und Können an eine Grenze gekommen sind, etwa dann, wenn die planbare Leistung versagt und wir uns am Ende unseres Lateins fühlen.

Erfahrungsberichte von Menschen verschiedener kultureller und geschichtlicher Zusammenhänge bestätigen, dass es so etwas wie ein Geheimnis des Lebensgrundes gibt: eine Dimension der Realität, die wir erleben, spüren, ahnen, aber nicht befriedigend begrifflich beschreiben können. Die Namen, die dafür verwendet worden sind und werden, sind zahlreich: „Schöpferischer Urgrund,“ „Weltgeist“, „Sein“, „kosmisches Urprinzip, „Gott“. Wenn wir uns durch den praktizierten Missbrauch dieser Ausdrücke nicht irritieren lassen, dann können wir erkennen, dass damit trotz vielfältig wechselnder Bedeutungsvariationen eine und dieselbe Grundwirklichkeit angesprochen wird. Die auf dieser Wirklichkeit beruhenden Erfahrungen wurden – je nach kulturellem Umfeld – verschieden interpretiert. Trotzdem weisen sie auf eine verbindende, in allen Erdteilen erfahrbare Kraft hin.7 Zur Verdeutlichung führe ich hier eine Erfahrungsskizze an, die durch Karlfried Graf Dürckheim vermittelt worden ist. Sie verwendet den Begriff SEINSGRUND8: So gilt es, sich jenen inneren Erfahrungen zu öffnen, in denen wir eine ganz andere Art von Wirklichkeit erleben als es die ist, die wir im gegenständlichen Fixieren und Begreifen aufbauen und in der wir uns auskennen und die „Welt“ meistern. Fragt man besorgt: Geht es da nicht um „mystische“ Erfahrungen, für die man eine besondere Begabung mitbringen muss, und ist nicht alles, was da erfahren wird, nur „’subjektiv“, so erweist man sich als Opfer des heute das Feld beherrschenden gegenständlichen Bewusstseins, das sich im naturwissenschaftlichen Denken und technischen Meistern der Welt erfüllt; denn für den Raum der transzendenten Erfahrung, der den Horizont des gegenständlichen Denkens überschreitet, ist das naturwissenschaftliche Denken nicht zuständig; aber auch nicht ein geisteswissenschaftliches Denken, das begrifflich und gegenständlich orientiert ist. Die Tatsache, dass es sich in den Seinserfahrungen um jene begrifflich nicht festzulegende allumgreifende Wirklichkeit handelt, die man nicht erklären noch begrifflich einordnen kann, besagt nicht, dass man nicht von ihr sprechen könnte. Die Voraussetzung dafür, dass man versteht, wovon da die Rede ist, ist auch nicht erst die eigene Erfahrung. Es genügt die im Wesen des Menschen gründende Ahnung und Sehnsucht nach dieser Erfahrung. Seinserfahrungen sind Erfahrungen, die wohl jedem von uns irgendwann einmal in den Sternstunden seines Lebens zuteil wurden, zu denen wir aber meist nicht vorbereitet sind und die wir darum in ihrer Bedeutung nicht erkennen und wieder vertun. Es sind Stunden des Glücks, öfter aber noch die Stunden grösster Not: Es sind Stunden, in denen wir an die Grenzen unserer menschlichen Macht und Weisheit gelangten, scheiterten, dann aber fähig waren, uns zu unterwerfen, und im Augenblick des Loslassens und Eingehens des alten Ichs und seiner Welt verspürten wir in uns das Aufgehen einer anderen Wirklichkeit. So mancher hat es erfahren, wenn der Tod ganz nah war, in Bombennächten, in schwerer Krankheit oder anderen Weisen drohender Venichtung , wie gerade in dem Augenblick, in dem die Angst ihren Höhepunkt erreichte und die innere Abwehr zusammenbrach, wenn er sich jetzt unterwarf und die Situation annahm (also vom lch her gesehen, das ja immer seine Position wahrt, eine paradoxe Handlung beging), schlagartig ganz ruhig wurde, unversehens ohne Angst war und spürte, dass etwas in ihm lebendig ist, an das kein Tod und keine Vernichtung heran kommt. Für einen Moment wusste er dann: „Wenn ich hier wieder herauskomme, dann weiss ich ein für allemal, von woher und auf was hin ich zu leben habe.“ Der Mensch weiss nicht, was es ist, aber er fühlt sich plötzlich in einer anderen Kraft. Er weiss nicht woher und weiss nicht wozu. Er weiss nur: ich stehe in einer unvernichtbaren Kraft.9 Damit ist eine Vertrauensbasis angesprochen, die auch in einer von Misstrauen strotzenden Umwelt tragen kann. Konstruktives Arbeiten an und in dieser Welt wird dadurch nicht ersetzt, aber unterstützt.

Sechste These

Wenn wir Lebensbedingungen schaffen und erhalten wollen, die mehr Menschen eine menschenwürdige Arbeit und Freizeit ermöglichen, dann genügt es nicht, die von Rüstungsspezialisten diskutierten Fakten und Vorschläge zu beachten. Wir müssen lernen, unsere Welt als vernetztes System10 zu begreifen und dementsprechend mehrdimensional zu denken, so dass wir zum Beispiel mehr als bisher auch die psychologischen Auswirkungen von sicherheitspolitischen Entscheidungen berücksichtigen können. Zu diesen Auswirkungen gehört die Gesamtheit der ausgelösten Reaktionen, also z.B. auch jener Anteil an Gefühlen, Bedrohtheitsvorstellungen, Gegenmassnahmen, die auf der Seite der politischen Antagonisten bzw. der realen oder vermeintlichen Feinde hervorgerufen werden.

Siebte These

Die Wende zu einem auf gemeinsame Wohlfahrt ausgerichteten Denken wird durch unüberprüfte Feindbilder behindert. Dabei sind unbewusste Motive wirksam. Feindbilder haben eine entlastende Funktion.11 

Die Fähigkeit, auf Feindbilder zu verzichten, können wir entwickeln, indem wir lernen, unsere Aggressionsenergie auf unschädliche Weise abzureagieren oder in konstruktive Kanäle zu lenken, z.B. in den gemeinsamen Kampf gegen die Unmenschlichkeit auf unserem Planeten und für menschenwürdige Lebensbedingungen.
Ansätze dazu wären z.B.: Entscheidung zu einer mit Hass unvereinbaren Haltung, Initiativen in Richtung auf Versöhnung, Aussprache, Aufnahme von direktem Kontakt mit den beteiligten Konflikt- und Kooperationspartnern, Nutzen der Möglichkeit zu persönlichen Beratungsgesprächen, Suchen oder Schaffen von Freiräumen für Kreativität. Lösen von inneren Spannungen durch körperliche Aktivität, z.B. Sport, Yoga, Bioenergetik, dynamische Meditation, Arbeit an gemeinsamen Anliegen mit themenzentrierter Interaktion (TZI).

Der Weg in diese Richtung ist teilweise durch Hindernisse wie ideologiebedingte Vorurteile verstellt. Das heisst aber nicht, dass die Hindernisse als unüberwindbar angesehen werden müssen.

Achte These

Die dem notwendigen Umdenken entgegenwirkende Verwirrung können wir dadurch abbauen, dass wir uns genügend Zeit zu meditativer Stille nehmen. So können wir uns zum Beispiel Wirklichkeitsbereichen zuwenden, die auf uns beruhigend wirken, uns zu Sammlung und Besinnung kommen lassen, uns in der nicht manipulierbaren Tiefe der Seele ansprechen. Je nach individueller Eigenart können dies verschiedene Gegebenheiten sein: z.B. ausgewählte Musik, ein packendes Bild, ein lebendiger Baum, ein Kind, ein ehrliches Gespräch, Kontakt zu Suchenden, Leidenden, Liebenden, eine Schriftlesung, Meditation. Besonders beachtenswert sind in diesem Zusammenhang manche Inhalte des Neuen Testamentes, zum Beispiel «die goldene Regel»: Diese bietet einen Orientierungsansatz, den auch Leute mit kritischer Einstellung gegenüber kirchlichen Institutionen bejahen können.

«Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu» Und: „… Was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen (Mt. 7,12). Das steht in der Bergpredigt. Es steht nicht nur in der Bergpredigt, sondern in einer langen Reihe von klassischen ethischen und religiösen Texten. Man handelt zwar immer dagegen, aber man kann, wenn man es einmal mit dem Herzen gehört hat, nicht mehr ehrlich sagen, es sei nicht wahr.12

Wer aus dem Labyrinth von verwirrenden Theorien und Gegentheorien herausfinden will, kann die Möglichkeit nützen, von ursprünglich Einleuchtendem und Offensichtlichem auszugehen und von dort aus weiterzudenken statt von ldeologien aus, bei denen schon am Anfang „der Wurm drin ist“ (wie zum Beispiel beim Abschreckungsdogma). Die goldene Regel ist ein solcher Ansatz. Danach gilt es, die für uns gewünschte Sicherheit auch Andersdenkenden zuzugestehen, indem wir z.B. eine Entwicklung ermöglichen helfen, die uns und die anderen von nervös machenden Bedrohungen frei werden lässt. Wir erwarten von den anderen, dass sie darauf verzichten, uns durch Atomraketen und dergleichen zu bedrohen. Wenn wir mit dem Verzicht auf solche Drohmittel bei uns selber anfangen und konstruktive Friedensinitiativen damit verbinden, dann kommen wir wahrscheinlich dem realistischen Weg zu Frieden und Freiheit näher als wenn wir uns im Gegensatz zum Geist der Bergpredigt auf die bei feindseligen Militaristen üblichen Verhaltensmustern beschränken.

Neunte These

Das Gelingen von individueller und sozialer Entfaltung hängt in erheblichem Ausmass davon ab, wie weit wir zu einem lebensfreundlichen Umgang mit Schuld kommen. Dazu bedarf es einer Unterscheidung zwischen eingebildeter und echter Schuld sowie zwischen echter und eingebildeter Schuldlosigkeit. Schuldgefühle sind kein Beweis für Schuld. Sie können durch überstrenge Erziehung, engstirnige Moral, unmenschliche Pseudoreligiosität und dergleichen bedingt sein. Andererseits ist das Fehlen von wahrnehmbaren Schuldgefühlen kein Beweis für Schuldlosigkeit. Schuldgefühle können auch verdrängt werden. Das Schuldigwerden gehört zum Alltag unserer Existenz. Solange wir nicht lernen, zu einem gesunden Umgang mit unserer Schuldanfälligkeit zu kommen, indem wir z.B. leben, ohne in lebensbehindernder Skrupellosigkeit oder in Verdrängungshaltung stecken zu bleiben, ist uns der Zugang zur Lösung von vielen Konflikten verschlossen. Ausführliche Unterlagen für die Auseinandersetzung mit Schuld und Schuldbewältigung sind in der Theologie und in praktizierenden Glaubensgemeinschaften erarbeitet worden, etwa im Zusammenhang mit den Begriffen „Vergebung“, „Erlösung“, „Versöhnung“.13
Ich beschränke mich hier auf eine Beobachtung, die wiederum Carl Friedrich von Weizsäcker beschrieben hat: Das Freiwerden von den Folgen der Traumata, die mir andere angetan haben – diese Befreiung geschieht, wenn sie überhaupt geschieht, nur, wenn ich meine Fehler als meine Fehler anerkenne und mich eben damit von ihnen unterscheide, sie als Schuld auf mich nehme. Die Befreiung beginnt mit dem Anerkenntnis: Ich könnte anders, und dass ich nicht anders gehandelt habe, liegt an mir. Wenn ich das nicht zu bekennen vermag, dann bleibt der Fehler mit seinen unvermeidlichen Konsequenzen an mir haften. Dann bin ich mit dem Fehler identifiziert und trage die unweigerlichen Folgen. Ich glaube, der gesamte Konflikt der Menschen mit sich selbst, den sie dann immer nach aussen projizieren (und der macht, dass sie voller Aggression gegenüber Dritten sind, dass sie die Gesellschaft und ich weiss nicht wen sonst beschuldigen), dieser Konflikt beruht darauf, dass man an irgendeiner Stelle eine offensichtliche Schuld nicht auf sich genommen hat. Aber wenn ich sie auf mich nehme, muss ich dann nicht verzweifeln? Darauf ist die Antwort das, was am Anfang der Bergpredigt steht, das sind die Seligpreisungen im Indikativ. Da wird nicht gesagt: „Du sollst“, da wird auch nicht gesagt: „Du kannst, denn du sollst“, was nur als beleidigend empfunden werden kann, sondern da wird gesagt: „Selig bist du, wenn du den Frieden machst, dann wirst du ein Sohn Gottes heissen. Selig bist du, wenn du verlangst, wenn du bettelst nach dem Geist. Dies dein Verlangen wird erfüllt werden.“ Eigentlich muss es sogar nicht Im Futurum gesagt werden, sondern im Präsens. Denn in dem Augenblick, in dem es uns erfüllt wird, entdecken wir, dass es immer erfüllt war und wir es nur nicht gesehen haben.14 Wenn wir von da aus nun wieder auf die Arena der bisher üblichen Rivalitätskämpfe in der Politik hinsehen, dann können wir vielleicht erahnen, wie tief das fällige Umdenken gehen kann, muss, darf.

Zehnte These

Ein Anfang zur Versöhnung ist getan, wenn wir – es klingt banal, ist aber offensichtlich nicht selbstverständlich – die Entscheidung treffen, dass wir uns versöhnen wollen.

Der Entschluss dazu kann schwerlich ohne innere Ambivalenz gefasst werden, solange wir Feindbilder brauchen, um unsere Aggressionsstaus abzureagieren und den Hang zum Rivalisieren auszuleben. Umso wichtiger ist es, sich aus der Abhängigkeit von versöhnungsfeindlichen Einstellungen und Emotionen zu lösen. Das geht nicht ohne Mut. Es ist nicht leicht, konsequent auf versöhnungsorientiertes Denken und Handeln umzusteigen, wenn einflussreiche Leute in der unmittelbaren Umgebung und in den Medien lieber auf Kollisionskurs fahren und ihre Werbemittel dafür einsetzen. Trotzdem bleibt es dabei, dass wir zur Bewältigung der Kriegsgefahr etwas anderes brauchen als neue Kriegsstrategien und Waffen. Wir brauchen eine Strategie der Versöhnung mit der dazu erforderlichen Arbeit an den inneren und äusseren Widerständen. Wo Versöhnung geschieht, entstehen Verhältnisse, die Abschreckung überflüssig machen, weil die Ursachen der Feindseligkeit und der daraus resultierenden Bedrohung behoben werden. Die in innere und äussere Militarisierung investierten Energien können dann für aufbauende Initiativen und Arbeiten freigesetzt werden, zum Beispiel für gewaltfreie Zusammenarbeit bei der Behebung von wirtschaftlichen und ökologischen Krisenursachen.

Elfte These

Schöpferische Aktivität erfordert etwas anderes als Hektik und Rechthaberei: die Bereitschaft, sich für Unbegreifliches zu öffnen und sich auch überraschen zu lassen. 

Paul Matussek, der Leiter einer Forschungsstelle der Max Planck-Gesellschaft in München, hat in seinem Buch über Kreativität einen Sachverhalt bestätigt, der vielen Praktikern vertraut, aber wissenschaftlich noch nicht angemessen ausgewertet worden ist: „Sowenig, wie ein hoher Intelligenzquotient kreatives Denken verbürgt, sowenig bewirkt unermüdlicher Fleiss schöpferische Tat. Jeder Künstler oder Forscher, der über das Entstehen seiner Werke reflektiert, hat deutlich gemacht, dass zur eigenen Aktivität noch etwas hinzukommen müsse, was nur schwer beschreibbar ist. Man bezeichnet es als Eingebung, Erleuchtung, Offenbarung, Geistesblitz oder, wie bei Goethe, „Gefäss zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses“, „Werkzeug einer höheren Weltregierung“.

Alle diese Formulierungen meinen zwei Eigentümlichkeiten:

  • a) Das Schöpferische ist etwas, das man empfängt, erhält, geschenkt bekommt;
  • b) man erhält es von einem Etwas, das nicht identisch ist mit dem bewussten Ich.15

Verständlicherweise neigt unsere rationalistisch geprägte Gegenwart dazu, die hier angesprochenen Vorgänge und Möglichkeiten zu ignorieren oder mit Misstrauen anzusehen. Schliesslich geht es hier um Ereignisse, die nicht auf der Linie des Dranges zum Beherrschen und Beherrschbaren liegen. Sie können nicht wie Maschinen und auch nicht wie Soldaten in Gang gesetzt und kontrolliert werden. Sie kommen „ohne Auftrag“ zustande, fügen sich nicht in willkürlich verordnete Kommando-Hierarchien. Leuten, die auf das technisch Machbare und das durch eigene Leistung Produzierbare fixiert sind, erscheinen sie als fremd. Sie gehorchen anderen Gesetzen als die Programme, die durch Zwang und Kontrolle durchgeboxt werden können.

Kein Wunder, wenn gerade „gewaltige“ Politiker besonders grobe Hürden zu überwinden haben, wenn sie diese Dimension unseres Lebens ernst nehmen und ohne negative Vorurteile würdigen wollen. Je mehr ein Mensch an Selbstbetonung, Selbstdurchsetzung und Machtausübung gewohnt ist, desto schwieriger wird es für ihn, sich auf Kräfte und Möglichkeiten einzulassen, die sich seinem Herrschaftsbereich entziehen.

Aber es ist offensichtlich geworden, dass es nicht mehr verantwortbar wäre, vor diesen Schwierigkeiten zu kapitulieren. Das Zurückdrängen des Schöpferischen hat zu einem Ausmass an Übertechnisierung und Entmenschlichung geführt, das immer zu einer Wende herausfordert. Es ist Zeit geworden, sich aus der einseitigen Fixierung an das technisch Machbare zu befreien und die schöpferische Dimension unseres Lebens mit den dadurch gegebenen Möglichkeiten neu zu entdecken. Es sind Möglichkeiten, die nicht Produkt unserer Leistung, aber trotzdem, ja vielleicht gerade deshalb bedeutsam sind. Beispiele dafür zeigen sich, wo intuitiv gefunden wird, was uns weiterhilft und heilt.

Für einen dauerhaften Frieden brauchen wir schöpferische Phantasie und Offenheit für das nicht Erzwingbare.16

Zwölfte These

Feindschaft und Hass können nicht durch militärpolitische Massnahmen behoben werden, nicht durch Vermehrung von Vernichtungsmitteln. Wir brauchen etwas anderes: mehr Mut zum Menschlichen – trotz, ja gerade wegen aller Härte und Kälte auf unserem Planeten.

Was dies konkret bedeutet, ist durch Menschen veranschaulicht worden, die mit Einsatz ihres eigenen Lebens für Menschlichkeit gekämpft haben.

Hier nur ein Beispiel; es stammt aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg: VICTOR GOLLANCZ. In einem Buch über „Kämpfer für die Menschlichkeit“ heisst es von ihm: „Jedesmal, wenn wir hassen, hat Hitler gesiegt.“ Das ist seine Devise, und nach ihr handelt er. Seine Landsleute begreifen ihn nicht; denn die Auswirkungen des Krieges haben in ihnen Abscheu gegen alle Deutsche erweckt. Sie können nicht vergessen, was sie und andere Völker zu erdulden hatten, und ihr Schrei nach Vergeltung ist nur allzu verständlich. Nicht für Gollancz. Er wehrt sich gegen die aufbrandenden Gefühle der alles zerstörenden Rache, und als man ihn fragt, denn er, warum der Jude, für deutsche Menschen eintrete, erwidert er: „Gerade weil wir Juden besonders zu leiden hatten, ist unsere Mission, in erster Linie zu einer Aussöhnung bereit zu sein.“ Eines Tages – es ist der 25. November 1945 – steht Gollancz am Rednerpult der überfüllten Royal Albert Hall in London. Er spricht zu mehr als 5000 Zuhörern. Dem Sinne nach sagt er: „… Wir alle haben noch unter den Folgen des Krieges zu leid Überall sind die Lebensmittel rationiert. Den Menschen in geht es schlecht. Sie hungern. Vor allem hungern die Deutschen. Wie können wir dann verlangen, dass man uns mehr gibt als den andern? Es ist nicht richtig, satt zu werden, wenn viele Tausende und aber Tausende abseits stehen und nicht wissen, wie sie sich ernähren sollen! Darum erwarte ich, dass wir Engländer freiwillig verzichten. Wenn wir genug Lebensmittel haben, um unsere eigenen Rationen zu erhöhen, dann haben wir zuviel und wir sollten nicht unsere eigenen Wänste füllen, sondern denen geben, die heute noch hungern müssen …“ Das ist zuviel! Wie kann ein Mann es wagen, solche unverschämten Forderungen auszusprechen? Sind nicht die Deutschen an ihrem Unheil selbst schuld? Nun sollen sie auch dafür büssen. Doch Gollancz lässt nicht locker. Er kümmert sich nicht um die widersprüchlichen Äusserungen seiner Gegner im eigenen Lande, denn er weiss, dass niemand ihm vorwerfen kann, ein heimlicher Freund der Hitlerschen Diktatur gewesen zu sein. Ihm geht es immer um den Menschen. Er rechnet nicht nach Staaten. Er hat stets die Millionen der einzelnen Männer und Frauen und Kinder vor Augen. Mögen sie nun in Deutschland oder Indien leben. Das spielt für ihn keine Rolle. Wo die Not beginnt, hat der Hass aufzuhören.17 Diese Haltung lässt eine Alternative zu den Teufelskreisen von Gewalt und Rivalitätsdenken deutlich werden. Sie rückt eine Kraft ins Blickfeld, die befreit, indem sie Leben schafft und Solidarität erzeugt: die Kraft, die dort erlebbar wird, wo Menschen zu Realismus und Liebe offen werden, auch beim Umgang mit Partnern, die uns real oder vermeintlich bedrohen.
In einer Zeit, die dazu neigt, den Mangel an menschlicher Friedenspotenz durch Fixierung auf Raketenstrategien zu überspielen, klingt es für manche Ohren „unmodern'“, an die Macht einer geistigen Kraft zu glauben. Vielleicht ist es trotzdem, ja erst recht notwendig, dies zu tun, Jedenfalls haben wir es hier mit einer Kraft zu tun, die aus mehreren Gründen von fundamentaler Bedeutung ist, allein schon deshalb, weil sie Wege zu einer Friedensförderung wachsen lässt, ohne via Raketen noch mehr Bedrohung zu schaffen.18

VI. Konsequenzen

Wenn wir die erwähnten Fakten und Möglichkeiten in ihrem Zusammenhang sehen, dann wird ein ermutigender Ansatz für weiterführende Verständigung erkennbar. Er stimmt mit spontanen Alltagserfahrungen und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen sowie auch mit biblischen Offenbarungsquellen überein.

In der davon ausgehenden Perspektive zeigen sich verwertbare Orientierungspunkte:  

  • Die Meinung, Frieden mit den dazu erforderlichen Verhandlungsergebnissen könne durch militärische Drohmittel erzwungen werden, bedarf einer gründlichen Revision. In Anbetracht von geschichtlichen Erfahrungen und tiefenpsychologischen Einsichten erscheint sie als Illusion. Anderseits aber erscheint es auch als illusionär, zu meinen, Friede könne einfach und ohne weiteres durch einseitige Abrüstung erreicht werden.

    Dem Wettrüsten und der damit gegebenen Kriegsgefahr liegen Ursachen wie z.B. Interessenkonflikte, Ängste und Vertrauensstörungen zugrunde, die sich der Kontrolle durch militärische Machtmittel entziehen. Die Wurzeln der Misere liegen letztlich nicht in der Zahl und dem Standort von Raketen, sondern im Denken, Fühlen und Handeln von Menschen: dem Verhalten von Politikern, Beratern, Meinungsmachern und schliesslich aller Mitverantwortlichen, zum Beispiel der Wahlberechtigten…

    Das gilt trotz aller Abhängigkeiten von realen und vermeintlichen Sachzwängen.

  • „Um aus dem Teufelskreis eskalierender Bedrohung und Feindseligkeiten herauszukommen, brauchen wir Mut zu einem Umdenken, das Friedensfähigkeit und Friedenswilligkeit mit der dazu gehörenden Verständigungsbereitschaft entwickeln lässt, ohne in trügerischen Wunschphantasien stecken zu bleiben. Aufmerksames Berücksichtigen von psychologischen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhängen erleichtert die dazu erforderliche Lernarbeit.
  • Frieden lässt sich auf Dauer nicht mit Kriegsmitteln erreichen und sichern, schon gar nicht mit Raketen, die der am Konflikt beteiligte Partner als Ersteinsatzwaffe empfindet. Frieden entsteht, wo Frieden gelebt und in Gang gebracht wird, nicht dort, wo bewusst oder unbewusst der Krieg vorbereitet wird. Frieden aber wird zum Beispiel dort gelebt, wo wir Konflikte aus einer lebensfreundlichen Haltung heraus angehen bzw. angehen lernen: einer Haltung, in der wir das Recht auf Leben und Menschenwürde auch Andersdenkenden – einschliesslich sogenannter „Feinde“ – zuerkennen, in der wir aber auch aus der Verantwortung für den Schutz der eigenen Freiheitsrechte nicht aussteigen.
  • Das „Si vis pacem, para bellum“ („wenn Du Frieden willst, dann rüste dich für den Krieg“) war früher ein Grundsatz. über dessen Sinn oder Unsinn gestritten werden konnte. Im Zeitalter der nuklearen Hochrüstung wäre es verrückt, ja selbst mörderisch, sich daran zu orientieren. Was heute gilt, verlangt ein Umkehren der Blickrichtung: Wenn du Frieden willst, dann rüste dich für den Frieden. Dazu gehört die Arbeit an den menschlichen, den emotionalen und rationalen Voraussetzungen für friedensförderndes Verhalten, z.B. die Entscheidung zu Initiativen, die durch den Geist der Bergpredigt inspiriert sind, ohne den Realitätssinn auszuschalten.“
  • Orientierungshilfen für weiterführende Initiativen und Aufbauarbeit in diesem Sinn sind in der psychologischen, anthropologischen und theologischen Literatur dargestellt, zum Beispiel in den unten angeführten Veröffentlichungen. Dort ist auch ausführlicheres Informationsmaterial zur Auseinandersetzung mit diesem Ansatz zu finden.

Die damit aufgezeigten Befunde bestätigen, dass eine Chance zu sinnvollem Engagement haben.

Konkrete Schritte zu vernünftiger Friedensförderung lassen sich demnach auf mehreren Ebenen mehreren Ebenen einleiten und weiterführen:

1) Arbeit an sich selber: Auf dieser Ebene können wir zum Beispiel

  • unsere innere Bereitschaft zu friedensförderndem Umgang mit Konflikten überprüfen, ggf. erneuern und weiterentwickeln,
  • uns sachkundig machen, Aggressionen kreativ handhaben bzw. handhaben lernen,
  • unsere Phantasie für gewaltfreie Lösungen erweitern, evtl. mit kreativitätsfördernden Techniken (Beispiel: Brainstorming),
  • durch aktives Zuhören und einfühlende Gesprächsführung zum Gelingen von Verständigung beitragen,
  • nach Möglichkeit förderliche Voraussetzungen für unsere Gesundheit – auch die innere – und Persönlichkeitsentwicklung schaffen, ohne die Rechte anderer zu verletzen (Konkretisierungen dazu sind in den Veröffentlichungen von G.Bach, C.Rogers, E.Fromm, F.Riemann, A.Görres, K.Mandel, A.Lowen, K.v.Dürckhein, H.Richter u.a. dargestellt; siehe Literaturverzeichnis

2) Im sozialen Bereich können wir zum Erhalten oder Schaffen von guten Kommunikationskanälen und zum Verbessern von gestörten Beziehungen beitragen, indem wir zum Beispiel

  • Konflikte mit fairen Mitteln angehen (sie nicht gewalttätig zur „Lösung“ bringen und auch nicht „unter den Teppich“ kehren wollen),
  • menschliche und sachliche Voraussetzungen für fruchtbare Zusammenarbeit schützen und aufbauen helfen (Beispiel: Freiräume für offene Gespräche),
  • hilfebedürftigen Mitmenschen so beistehen, dass brauch bare Hilfe gelingen kann, ohne dass wir in vereinnahmendes Fürsorgeverhalten verfallen.

Zu dieser Arbeit gehört ausser der Hilfe in akuten Notfällen auch das Engagement für langfristige Präventivmassnahmen wie z.B. das Engagement für

  • Abbau von Ungerechtigkeit und
  • Entwickeln von Lebensbedingungen, die allen Menschen – zumindest jenen „guten Willens“ – ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Ich meine damit ein Dasein, das uns zu echter Mitmenschlichkeit frei werden lässt: Mitmenschlichkeit, die für ungeheuchelte Wahrhaftigkeit und schöpferische Liebe offen ist.

3) Im politischen Bereich gibt es ebenfalls vielfältige Möglichkeiten. So können wir etwa

  • bei Wahlkämpfen und Wahlentscheidungen friedenspolitische Gesichtspunkte berücksichtigen (also beispielsweise Kandidaten mit friedensfördernder Einstellung favorisieren) sowie auch nach den Wahlterminen für positive Initiativen und Aufbauarbeit eintreten. Wir können zum Beispiel
  • uns mit Fingerspitzengefühl und Sachverstand einsetzen, wenn es um das Bewältigen von Risikofaktoren wie Spannungsherde, Konflikte, Feindbilder, gesellschaftliche Polarisierungen und Spaltungsprozesse geht, Missstände und Gefahren von deren Ursachen her in Angriff nehmen, unter Mitberücksichtigung der Vernetzung mit ökonomischen und ökologischen Zusammenhängen, also auch unter Berücksichtigung von Problemfeldern wie inhumane oder schlecht verteilte Arbeitsplätze, übersteigerte Rüstungsausgaben auf Kosten von sozialen Notwendigkeiten, Gefährdung des inneren und äusseren Lebensmilieus durch Um- und Innenwelt-Vergiftung und dergleichen.

Schliesslich gehört hierher auch das notwendige Unterstützen von Beiträgen

  • zur politischen Kontrolle des Militärs,
  • zum umsichtigen Ausbauen von weltweiten wirtschaftlichen Beziehungen,
  • zum Entwickeln einer Weltfriedensordnung mit funktionsfähigem internationalem Krisenmanagement, kurz:
  • ganzheitlich orientiertes Umsetzen von Einsichten in politisches Handeln.

Die damit angesprochenen Fernziele sind beachtenswert, auch wenn wir in der konkreten Realität weit davon entfernt sind. Sie können die erforderliche „Knochenarbeit“ im Sinne einer Politik der kleinen Schritte nicht ersetzen, aber sie können dazu beitragen, zumindest die Richtung zu finden, in der ein weiterführender Weg erkennbar wird.

Nachwort

Die vorliegende Arbeit ist entstanden, weil ich ohne Krise weiterleben möchte und weil ich finde, dass die bisher üblichen Formen der Friedensarbeit nicht genügen, um die gewünschte Sicherheit und Friedensförderung zu verwirklichen.

Auch wenn es schon mehr als 5′ vor 12 ist, vergrössert sich unsere Chance, wenn wir jetzt entschlossen und mit Umsicht ans Werk gehen. Ich hoffe, dass diese Schrift hilft, zu dem dazu erforderlichen Umdenken anzuregen. Ihr Nahziel ist, einen Prozess in Gang bringen: Gespräche und Lernarbeit, die den Boden für einen Ausweg aus der Sackgasse bereiten und eine gemeinsam verantwortete Neu-Orientierung gewinnen lassen. In diesem Sinn verstehe ich die Arbeit als Anfang, nicht als abgeschlossenes Fertigprodukt. Ich lade Leser, die sich angesprochen fühlen, ein, am Weiterentwickeln und Umsetzen des skizzierten Ansatzes kreativ mitzuwirken.

Wer weiterführende Beiträge beisteuern kann – z.B. positive oder negative Kritik, korrigierende oder ergänzende Erfahrungen, Einsichten, Ideen, didaktische Medien wie etwa geeignetes Anschauungsmaterial, ist eingeladen, diese an unsere Kontaktstelle einzusenden:

info@frieden-foerdern.ch

Wie diese Unterlage verwendet werden kann?

Ich sehe fünf Möglichkeiten:

  1. Verwendung für den Leser selbst, z.B. als Anregung, um sich auf den eigenen Anteil am Schaffen und Sichern bzw. Gefährden und Zerstören des Friedens zu besinnen.
  2. Verwendung für Freunde und Bekannte, z.B. als Geschenk oder Denkanstoss für offene Gespräche und friedensfreundliche Initiativen.
  3. Verwendung für bestehende Friedensgruppen, z.B. als Impuls für eine Auseinandersetzung mit der Frage, wieweit die Wurzeln des Unfriedens mitberücksichtigt werden können und sollen, oder: wieweit es möglich/ notwendig/ sinnvoll ist, das Engagement über die bisherigen Zielsetzungen Methoden hinaus zu erweitern.
  4. Verwendung für das Bilden von neuen Initiativ- und Projektgruppen, z.B. als Orientierungshilfe für das Finden und Entwickeln von konsensfähigen Gesprächsgrundlagen – etwa im Bereich der überparteilichen Zusammenarbeit (Beispiel: Kooperation zwischen Friedenswilligen verschiedener Farben zwecks Verwirklichung von gemeinsamen Überlebensinteressen).
  5. Verwendung für soziale Multiplikatoren, z.B. als Unterlage für Grundlagen- und Planungsgespräche mit Verantwortlichen für Friedenserziehung und friedenspolitische Öffentlichkeitsarbeit.

Anmerkungen

zu Kapitel II

  1. Richter, H.E.: „Zur Psychologie des Friedens“, Rowohlt 1982, z.B. S. 121
  2. Richter, H.E.: „Zur Psychologie des Friedens“, Rowohlt 1982, S. 121 ff.
  3. Im Originaltext heisst es: „Dieses Feindbild ist unkorrigierbar.“ Den Begriff „anscheinend“ habe ich hinzugefügt, um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen. Feindbilder sind nicht so unkorrigierbar wie z.B. unabänderliche Naturgesetze.
  4. Richter, H.E., a.a.0. S. 122-124

zu Kapitel III

  1. mehr dazu in den Publikationen von George Bach, Herbert Selg, Horst E. Richter
  2. Vester, F.: „Unsere Welt – ein vernetztes System“, dtv 10118
  3. Vester, F.: „Phänomen Stress“, dtv 1396
  4. zit. nach Richter, H.E. : „Zur Psychologie des Friedens“, 1982, S. 61
  5. Ausführliches für eine konstruktive Kritik unserer Schulen findet sich in den Publikationen von R. Affemann, K. Singer, R. Cohn und Montessori-Pädagogen
  6. Unterlagen dazu in Richter, H.E.: „Zur Psychologie des Friedens“, Rowohlt 1982, S. 141 ff.
  7. Beispiele: Kleists „Michael Kohlhaas“, Shakespeares „MacBeth“ oder „Richard III.“, Tolstois „Krieg und Frieden“, Hauptmanns „Die Weber“

zu Kapitel IV

  1. zit. nach Richter, H.E.: „Zur Psychologie des Friedens“, Reinbek 1982, S. 184
  2. zit. nach H.E. Richter, op. cit. S. 43

zu Kapitel V

  1. Riemann, F.: „Grundformen der Angst“, München 1975
  2. mehr dazu in den Publikationen von G. Bach, C. Rogers, W. Schutz, A. Loewen, H.E. Richter, K. Mandel.
  3. Lernen durch Beobachten und Nachahmen von geeigneten Vorbildern.
  4. zum Beispiel durch Anerkennung, Bestätigung, Zuwendung von Aufmerksamkeit. Mehr dazu in der psychologischen, pädagogischen und verhaltenstherapeutischen Literatur zu Begriffen wie „Lernen am Erfolg“, „Lernen durch Bekräftigung“, „reinforcement“.
  5. Adrenalin und Noradrenalin. Mehr dazu in Selye, H.: Stress, Bewältigung und Lebensgewinn“, München 1976.
    Vester, F.: „Phänomen Stress“, Stuttgart 1976 u. München 1981
  6. Beispiel: TZI
  7. Belege für diese Feststellung finden sich in den Veröffentlichungen von K. Graf Dürckheim, E. Lassalle, Teilhard de Chardin, Karl Rahner, B. Staehelin; s. z.B. Staehelin, Balthasar: „Der psychosomatische Christus“, Dürckheim, K.v.: „Im Zeichen der grossen Erfahrung“. Auch die Unmenschlichkeit der sog Religionskriege ändert nichts an der Feststellung.
  8. Die Leser, die der Verwendung des Seinsbegriffs gegenüber skeptisch oder allergisch sind – etwa in
    folge von Gegenreaktionen auf eine Überstrapazierung des Begriffes durch die Philosophie M. Heideggers – lade ich ein, durch Wahrnehmen eigener Erfahrungen zu entdecken, was damit gemeint sein könnte.
  9. Karlfried Graf Dürckheim: „Überweltliches Leben in der Welt“, Weilheim 1968, S. 19 f.
  10. Erläuterungen dazu finden sich in den Veröffentlichungen von F. Vester
  11. S. Richter, H.E.: „Zur Psychologie des Friedens (1982)
  12. Carl Friedrich von Weizsäcker: „Bergpredigt, Altes Testament und modernes Bewusstsein“ in: „Sie werden lachen – die Bibel“, herausgegeben von H.J. Schultz, Stuttgart 1976
  13. z.B. Albert Görres und Karl Rahner: „Das Böse“, Freiburg 1982
  14. Carl Friedrich von Weizsäcker: „Bergpredigt, Altes Testament und modernes Bewusstsein“ in Hans Jürg  (Hrsg.): „Sie werden lachen – die Bibel“,  Stuttgart 1976
  15. Matussek, Paul: „Kreativität als Chance“, München 1976
  16. Beispiel: Überraschungen, kreative Verständigung, Befreiung durch geistige Kraft
  17. von Alfred Müller-Felsenburg, Verlag Habbel, Regensburg 1977
  18. Unterlagen zum Studium der Wirkweise von geistigen Kräften und zur Begründung von Vertrauen in diese Kräfte können in tiefenpsychologischen, psychotherapeutischen und theologischen Veröffentlichungen gefunden werden, z.B. in den Publikationen von Martin Buber, Sigmund Freud, C.G. Jung, Hans Trüb, Ludwig Binswanger, Carl Rogers, Ruth Cohn, Albert Görres, Karl Rahner, besonders in den Beiträgen zu den Begriffen Eros, Begegnung, Gespräch, Annahme, Nächsten- und Feindesliebe.

Literaturverzeichnis

  • Alt, Franz: Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt (München 1983)
  • Buber, Martin: Der Weg des Menschen … (Heidelberg 1967)
  • Capra, Fritjof: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild (München 1983)
  • Cohn, Ruth: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion (Stuttgart 1976)
  • Dürckheim, Karlfried Graf: Meditieren – Wozu und wie? (Freiburg 1976)
  • Eppler, Erhard: Wege aus der Gefahr (Hamburg 1981)
  • Erneuerung in Kirche und Gesellschaft (Zeitschrift, Verlag Erneuerung Paderborn)
  • Fromm, Erich: Haben oder Sein (Stuttgart 1976)
  • Gerechtigkeit schafft Frieden: (Bonn 1983) Hirtenwort der dt. Bischöfe
  • Görres, Albert: Das Böse. Wege zu seiner Bewältigung in Psychotherapie und Christentum (Freiburg 1982)
  • Guardini, Romano: Die Annahme seiner selbst (Würzburg 1965)
  • Hättich, Manfred: Weltfrieden durch Friedfertigkeit? (München 1983)
  • Hauser, Theresia: Nähe, Träume und Wirklichkeit (München 1983)
  • Jungk, Robert: Menschenbeben (München 1983)
  • Neumann, Erich: Tiefenpsychologie und neue Ethik (München, Kindler TB „Geist und Psyche“)
  • Petzold, Hilarion (Hg): Kreativität und Konflikte (Paderborn 1973)
  • Rahner, Karl: Schriften zur Theologie; mit Görres,A.: Das Böse (s.o.)
  • Richter, Horst E.: Zur Psychologie des Friedens (Reinbek 1982)
  • Rogoll, Rüdiger: Nimm dich wie du bist (Herder Taschenbuch 1976)
  • Rohner, Peter: Spannungen meistern – aber wie? (in „Materialen 2“ der Kübel-Stiftung Bensheim)
  • Satir, Virginia: Selbstwert und Kommunikation (München 1975)
  • Vester, Frederic: Ballungsgebiete in der Krise (München 1983)
  • Weizsäcker, Carl F.v.: Wege in der Gefahr (München 1976)

Weil für die Arbeit an den angesprochenen Themen auch emotionale und intuitive Komponenten wichtig sind, sei hier auch an die damit befassten Beiträge der Dichtung erinnert. Wie innere Friedlosigkeit entsteht, kann zum Beispiel anhand von Dostojewskis Raskolnikow, Büchners Wozzek, den Werken Tolstois, Goethes, Schillers, Kleists, Shakespeares studiert werden.

Durchbrüche zu einer Befreiung aus dem Teufelskreis des Unfriedens und konkrete Beispiele für lebensfreundliche Einstellungen sind in Dramen und Romanen über humanisierende Revolutionen und die Zeit des Urchristentums aufgezeigt, ausserdem in Lebensberichten von und über Menschen wie Franz von Assisi, Bruder Klaus von Flühe, Ignatius von Loyola, Albert Schweitzer, Albert Einstein, Mahatma Gandhi, Dag Hammarskjöld, John F. Kennedy, Johannes XI., nicht zuletzt auch in Beiträgen von vielen grossen und kleinen Friedensstiftern, deren Namen in der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden sind. Ein Beispiel: Elisabeth Ehrlich.

Über den Autor

Richard Peter ROHNER, Dr.phil.

Musik- und Naturfreund aus der Schweiz, Pionier für gesundheitsfreundliche Bildung und Friedenskultur .
Auf seinem Lebensweg entwickelte sich eine Haltung, die Krisen als Herausforderung wahrnehmen lässt und annehmen hilft – mit Offenheit für kreatives Erleben.

Zu den wichtigsten Etappen gehören Lebensphasen mit den folgenden Schwerpunkten: 

  • Ausbildung für Tätigkeit als Sekundarlehrer, Abschluss mit Diplom in der Schweiz.
  • Weiterbildung mit Konzentration auf Psychologie, Pädagogik und Musik,
  • Abschluss mit Promotion an der Universität Fribourg (1963), danach:
  • Zusatzausbildung und Praxis im Bereich der integrativen Therapie und Prävention in Verbindung mit Philosophie.

Während der Berufsjahre wirkte ein für Erholung nützliches Hobby mit: Leben mit Musik für Entspannung und stressfreies Konzentrieren. Das brachte Freude und ließ nachhaltige Lebensqualität gewinnen – mit Musik, die in hellen und dunklen Stunden wohltuend wirkt.
Spuren davon zeigen sich in Texten und Musikstücken, die in einer offenen Sammlung zusammengefasst sind – unter dem Namen BARK-Sammlung.

Heute engagiert sich Peter R. bei gesundheits- und friedensfreundlichen Anlässen als
Berater i.R., Komponist und Pianist für intuitives Einstimmen, Begleiten und Improvisieren.

Mail-Adresse für persönliche Mitteilungen und Anfragen: 

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